Vorgestern habe ich hier eine der bekanntesten und bedeutendsten russischen Künstlerinnen des vergangenen Jahrhunderts vorgestellt: Natalia Goncharova. Ich habe hier noch einen interessanten Artikel in der Süddeutschen Zeitung gefunden, der das bereits Geschriebene noch ein wenig ergänzt:

Natalia „Gontscharowa ist eine Allesfresserin, die sich nicht um Zuordnungen schert. Sie wildert in der Volkskunde, der Kunstgeschichte, der christlichen Ikonografie wie in der Technikgeschichte, ohne sich an die Regeln einer dieser Disziplinen zu halten. Sie malt mal beinahe traditionell, dann wieder kubistisch, vor allem aber so, wie es ihr gerade gefällt. Näht Kleider und Kostüme, legt sich mit der Kirche an, verhöhnt den Dünkel der Hochkunst. Mit nationalen Stilen kann sie nichts anfangen und mixt fröhlich den italienischen Futurismus mit russischen Sagengestalten, Moskauer Christusfiguren mit Stilmitteln der deutschen Brücke-Künstler. Gontscharowas Œuvre ist eine Klasse für sich.
Als junge Frau trägt sie die weiten bunten Gewänder aus der Gegend um Tula, 200 Kilometer südlich von Moskau gelegen. Dort verbrachte sie ihre ersten Lebensjahre, bevor ihre Familie 1891 mit der Elfjährigen nach Moskau zog. Den Farben und Mustern der Bäuerinnen aber bleibt Gontscharowa auch als erwachsene Künstlerin und Designerin treu; …
Gontscharowa schaut und malt und näht wie besessen. Dass die Ergebnisse auch gesehen und geschätzt werden, verdankt sie ihrem Partner Michail Larionow, der mit ihr diskutiert, ihre Arbeiten für die Öffentlichkeit beschreibt, ihre Ausstellungen kuratiert. Gemeinsam entwickeln sie das Konzept des Rayonismus, das vage an Albert Einsteins spezielle Relativitätstheorie anschließt. Gontscharowa und Larionow leiten die farbintensiven Bilder in dieser Theorie aus der Strahlkraft des Lichts ab; es ist ein Versuch, Sinnliches und sinnlich nicht Fassbares zusammenzubringen.
Vergeistigt aber ist das Paar nicht, den beiden geht es um Aktion und Interaktion… 1913 bemalen sie sich die Gesichter mit Zacken, Strichen und Sternen und ziehen gemeinsam mit Freunden durch Moskau, eine frühe Kunstperformance. Auf Fotografien sieht man Gontscharowa in ihren weiten, zeittypischen Kleidern und kreuz und quer bemaltem Gesicht. Futuristisch sollte das sein, wirkt aber wie auch die Malerei Gontscharowas viel weicher, lebenszugewandter, weniger verbissen als die Vernichtungsfreude der italienischen Technikeuphoriker.“
Quelle: „Eine Allesfresserin“, Süddeutsche Zeitung Online, 03.07.2019, online unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunst-eine-allesfresserin-1.4509677, aufgerufen am 23.07.2019
Ich hatte das Glück, das Oeuvre dieser außergewöhnlichen Künstlerin in der Tate Modern zu bewundern. Sie war wirklich einzigartig 😊
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