Noch einmal zurück zu Lajos Kassák, einem der Hauptvertreter der ungarischen Avantgarde. Anlässlich einer Ausstellung in der Berlinischen Galerie ist 2011 im Deutschlandfunk Kultur folgender Beitrag über den Künstler veröffentlicht worden:
„Was André Breton für den französischen Surrealismus ist, das bedeutet der Name Lajos Kassák für die ungarische Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg“, schrieb einmal eine Kritikerin, und das ist fast noch eine Untertreibung. Denn Lajos Kassák knüpfte seine Netzwerke über Landesgrenzen hinweg, vor allem nach Deutschland, und zählte zwischen 1910 bis zum Beginn der kommunistischen Revolution in Ungarn zu den führenden Köpfen der Moderne in Mitteleuropa. Warum sein Name dennoch bei uns kaum bekannt ist, im Gegensatz zu denen anderer moderner Vorreiter wie Laszlo Moholy-Nagy oder auch Victor Vasarely? Geht es nach dem Schriftsteller György Dalos, dürfte ein produktives Missverständnis dafür verantwortlich sein.

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Dann nach der Niederschlagung der kurzen ungarischen Räterepublik 1919, die für Kassák so etwas wie Erfüllung seiner politischen Träume dargestellt hatte, war er nach Wien geflohen. Sieben Jahre lang hoffte er dort aber vergeblich darauf, mit seinen Zeitschriften und seiner künstlerischen Arbeit wieder Fuß zu fassen und seinen alten Einfluss auf die Intellektuellen zurückzugewinnen, den er in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehabt hatte. Kassák fühlte sich zunehmend isoliert und kehrte nach Ungarn zurück, überdauerte dort die faschistische Phase und glaubte dann anscheinend mit der Einnahme Ungarns durch die Rote Armee an eine Rückkehr zur kommunistischen Räterepublik.
Er schloss sich den jungen Kommunisten an, proklamierte wieder seine avantgardistischen Thesen von der Revolution in der Kunst, und scheiterte damit auf ganzer Linie. Die ungarischen Stalinisten hassten Kassák, sie hielten seine experimentelle Lyrik, sein Manifest und seine konstruktivistischen Bilder, die auch vom Dadaismus beeinflusst waren, für dekadent und letztlich bourgeois. …
Lajos Kassák steht für den frühen, einflussreichen Versuch, die gesellschaftlichen Utopien des russischen Konstruktivismus um El Lissitzky oder Alexandr Rodschenko in Europa zu verbreiten. Über seine aktivistischen Zeitschriften Tett („Die Tat“) oder MA („HEUTE“) kreierte er künstlerische und intellektuelle Netzwerke, die über Lazlo Moholy-Nagy auch Einflüsse auf die Programmatik des frühen Bauhauses nahmen. …
Lajos Kassák steht aus heutiger Sicht für die ideelle Brücke zwischen Ost und West deren Gemeinsamkeit unter dem Ideengut der europäischen Avantgarden später im Kalten Krieg völlig in Vergessenheit geriet.
Er steht zugleich für das geheime Fortexistieren dieser einstigen modernen Avantgarden unter den sozialistischen Regimen, die diese Tendenzen unterdrückten. Kassák saß nach 1948 im offiziell kommunistischen Ungarn zwischen allen Stühlen. Er war als Künstler isoliert, durfte nicht ausstellen, beteiligte sich andererseits aber auch nicht an neuen Bewegungen wie dem Ungarnaufstand um Imre Nagy. Er hatte keine Optionen mehr und starb fast unbekannt 1967.
Quelle: Probst, C.,“‚Botschafter der ungarischen Avantgarde“, Deutschlandfunk Kultur, 24.07.2011, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/botschafter, aufgerufen am 27.04.2020