Gestern habe ich über die derzeit laufende Modigliani Ausstellung in Livorno geschrieben. Ich bin bei Amadeo Modigliani hängengeblieben. In einem Katalog zu einer Ausstellung vor zehn Jahren in Bonn habe ich einen Text zum Mysterium Modigliani gefunden, der richtig Lust macht, sich mit diesem mysteriösen Künstler tiefergehend auseinander zu setzen:
„Alles an ihm ist Geheimnis, Innerlichkeit, verhaltene Kraft. Wenn man zum ersten Mal ein von Modigliani gemaltes Gesicht sieht, ist es das, was erstaunt: Etwas ist nicht ausgeprägt, ist nicht vollendet, da fehlt etwas, in den Linien, in der Farbe. Es zittert und verschwindet, erscheint erneut, wie ein Licht, wie das Aufleuchten eines Blicks, wie ein Lächeln. Unmöglich, dies festzuhalten, es zu ergreifen. Das ist das Mysterium Modiglianis, seine Macht: Er ist einer der wenigen Zauberer unserer Welt, der an das Leben, an die Bewegung glauben lässt.

Um wahrhaft zu sagen, was diese Kraft ist, müsste man, glaube ich, vom Anfang der Malerei selbst sprechen, den Tieren der Frühgeschichte, den Glyphen, den Statuetten Kretas oder der keltischen Welt oder auch den etruskischen Malereien, worin durch die ein wenig eitle Anmut der Griechen die Gewalt des grenzenlosen Orients zutage tritt.
Modigliani ist mit Gauguin und van Gogh einer jener Maler, die sich am weitesten der Quelle der Kunst genähert haben, die magisch und rituell ist. Ohne es wirklich zu Wissen, aber mit dem ihm eigenen unbeugsamen Willen, malt er mit der immer selben Beharrlichkeit im Lauf der vielleicht zehn Jahre, die sein Leben als Maler währt, ein Gesicht und einen Körper, dasselbe Gesicht und denselben Körper, denselben Blick, als wiederholte er unermüdlich jene Exorzismusiguren, die bei einer Heilungs- und Wahrsagungszeremonie umgehen.
Das ist es, was fasziniert und ein wenig entsetzt am Werk Modiglianis, und niemand hat das verkannt. Er steht außerhalb des Stroms der Kunst, beiseite. könnte man sagen. Nicht aus Stolz und auch nicht aus Verachtung für die Kompromisse, die aus der Kunst einen Marktwert machen. Sondern weil er rasch begreift, durch eine Art blitzartige Eingebung. die wohl das ist, was anderen Menschen Genie nennen, dass er von diesem Gesicht allein und von allein diesem Körper gefordert ist, und dass er sie unablässig zeigen, erschaffen muss, bis er sie zu den seinen gemacht hat, bis zur unmöglichen Vollendung.“
Quelle: J. M. G. Le Clézio, „Modigliani oder das Mysterium“, in: Modigliani – ein Mythos der Moderne, Dumont Verlag, 2009, S. 113f.
sehr spannend. Danke für den Beitrag.
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