„Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!“ – ist der letzte Satz des 1909 von Filippo Tommaso Marinetti veröffentlichten ‚Futuristischen Manifests‘.
Ein Manifest, dass nicht nur eine Kunstbewegung begründete, sondern auch Patriotismus, Krieg und Faschismus verherrlicht. Zum 100. Jahrestag der Veröffentlichung des Manifests ist eine kritische Betrachtung im ‚Spiegel‘ erschienen. Hier ein Auszug:

„Sie waren Prediger einer brutalen Avantgarde: Im Februar 1909 veröffentlichten die Futuristen ihr Manifest – sie liebten den Tod, das Tempo, Maschinen. Sie hassten Frauen und das Establishment. Wortführer Tommaso Marinetti wurde Mussolinis Kulturminister – und kämpfte für Hitler vor Stalingrad …
Als der Aufruf des feurigen Millionärssohns am 20. Februar 1909 … veröffentlicht wurde, hatte noch niemand von Marinetti und den „Futuristen“ gehört. Dafür allerdings erschien das Dokument, das Geschichte machen sollte, an prominenter Stelle und in hoher Auflage – als Aufmacher auf der Titelseite der angesehenen Pariser Tageszeitung „Le Figaro“. …
Der jugendliche Schwärmer, finanziell auf Rosen gebettet, besang einen neuen Menschen, der eine neue Welt schafft, getragen von einer „vielfarbigen, vielstimmigen Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten“ mit ihrer „nächtlichen, vibrierenden Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden.“ Die Maxime, die Marinetti seinen zerstörerische Superhelden mitgab, lautete: „Schönheit gibt es nur noch im Kampf.“ … Am Vorabend des Ersten Weltkriegs und des Faschismus wirkten seine Thesen wie ein dunkles Orakel: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“
Die Versatzstücke zu seiner kruden Ideologie hatte sich Marinetti, 1876 als Sohn eines Rechtsanwalts im ägyptischen Alexandria geboren, bei nächtlichen Diskussionen mit Symbolisten und Anarchisten angeeignet, mit denen er während seines Jurastudiums in Paris verkehrte. Dort machte er sich Notizen nach unerfreulichen Besuchen bei Prostituierten und las Friedrich Nietzsche. Marinettis Forderung mit allem zu brechen, Museen und Akademien zu schleifen, fiel bei vielen italienischen Künstlern auf fruchtbaren Boden – sie hassten den etablierten Kunstbetrieb und die erstarrten Strukturen der konservativen Monarchie. Maler wie Giacomo Balla, der Bildhauer Ferruccio Vecchi, Musiker und Literaten gründeten bald eigene Schulen des Futurismus, in denen die Jugend, Geschwindigkeit, Gewalt und Krieg verherrlicht wurden. …
Als Italien im Mai 1915 in den Krieg eintrat, meldete sich Marinetti freiwillig. Die meisten Futuristen taten es ihm nach. … Marinetti diente erst bei den Freiwilligen Radfahrern und Automobilsten und später bei den Gebirgsjägern. … [Er] gehörte zu den wenigen der futuristischen Schar, die den Krieg überlebten – dass der Futurismus ein kurzlebiges Phänomen blieb, lag auch daran, dass sich seine Vorkämpfer mit Lust in den Kampf stürzten und viele ihr Leben ließen. …
Marinetti gründete 1918 seine eigene Futuristische Partei, in deren politischem Manifest er ein Loblied auf den Anarchismus und die Oktoberrevolution sang und die „Kunst an die Macht“ forderte. Die Partei ging bald in Mussolinis neuer faschistischer Bewegung auf – doch die theatralische Liebe zum Faschismus blieb … ungetrübt. Mussolinis Ansatz, das bürgerliche Lager zu vereinnahmen, behagte den Futuristen nicht – sie waren keine politischen Strategen, sondern sprunghafte Aktionisten. Schon 1920 warf Marinetti, der immerhin die Nummer zwei nach Mussolini gewesen war, hin. Er sei ein „extravaganter Clown“ rief ihm der wütenden Duce hinterher. …
Marinetti dagegen erlebte noch ein politisches Comeback. Nachdem er öffentlich dem politischen Anspruch des Futurismus abgeschworen und seine Freundschaft zu Mussolini beschworen hatte, machte ihn der Duce 1924 zum faschistischen Kultusminister. Auch seinem Frauenhass hatte Marinetti inzwischen abgeschworen und geheiratet – das Eheverbot, das er in seinem eigenen „Futuristischen Manifest der Lust“ propagiert hatte, hin oder her.
Kampf und Krieg dagegen verherrlichte Marinetti weiter, und er liebte ihn wohl wirklich. Als italienische Truppen 1935 in Äthiopien einmarschierten und dort mit Giftgas und Massenerschießungen Furchtbares anrichteten, war Marinetti mit dabei. Und noch 1942, im Alter von 66 Jahren, zog der Futurist mit einem italienischen Expeditionskorps in Russland bis vor Stalingrad. Schwerkrank zurückgekehrt, diktierte er noch kurz vor seinem Tod im Dezember 1944 Gedanken, die im Duktus denen seiner wirren Jugendjahre glichen: „Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft.“
Quelle: Jochen Vorfelder, „Futuristisches Manifest – Wir wollen den Krieg verherrlichen“, Spiegel-Online vom 20.02.2019, unter: https://www.spiegel.de/geschichte/100-jahre-futuristisches-manifest-a-948177.html , aufgerufen am 27.10.2019
Diese unerbittlichen Menschenverführer in ihrem Wahn, nur Leichen hinter sich lassend. Doch sie gibt es immer wieder und Kunst und Künstler lassen sich missbrauchen.
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Wahnsinn! Diese Hintergründe kannte ich gar nicht! Gut recherchiert!
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Dank Dir! Liebe Grüße
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Ich habe Futurismus von dieser Seite auch noch nicht gekannt! Danke für die Info zu diesem wesentlichen, aber schaudrigen Aspekt!
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