Nach der etwas trockenen Einführung in den Primitivismus vorgestern, hier nochmals ein Artikel aus der „Die Zeit“ über Picasso, den Primitivismus und dessen Bedeutung für die moderne Kunst:
„Im Juni 1907 schlenderte Pablo Picasso in das ethnographische Museum des Trocadéro in Paris und sah dort Fetische und Stammesmasken. Hätte ihm jemand mit einem Bumerang auf den Kopf gehauen, der Effekt hätte nicht größer sein können. Diese Bilder prägten sich seinem Gedächtnis unmittelbar ein und formten, so sagte er, sein Denken über Kunst: „In diesem Augenblick wusste ich, was Malerei überhaupt ist.“
Stammeskunst türmte sich damals schon seit einigen Jahren in den Museen, zusammen mit Pfeil und Bogen, Schrumpfköpfen und Körben dort abgestellt von kühnen Forschern und Anthropologen, die aus Afrika zurückkamen. Aber erst am Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts fingen Künstler an, diese Dinge mit dem gleichen Interesse zu sehen, das vorher griechischen Marmorskulpturen, mittelalterlichen Madonnen oder Heuhaufen bei Sonnenuntergang vorbehalten war.

Pablo Picasso, Les Demoiselles d’Avignon, 1907, WIKIART, gemeinfrei
Dieser neue primitive Einfluss führte in Picassos Fall dazu, dass er „Les Demoiselles d’Avignon“ neu malte, jetzt wild und ungezähmt, und damit den ersten großen Schritt hin zum Kubismus machte. Auch andere Künstler wurden stark von den „Primitiven“ … beeinflusst…
Erst als die Muse der Kunst, ähnlich den gekrönten Häuptern Europas, gebeugt von Alter und überflüssigen Konventionen langsam den Kopf hängen ließ, begannen Künstler Stammeskunst ernst zu nehmen. Die kräftig geschnitzten, erfindungsreichen Souvenirs vom dunklen Kontinent wirkten auf sie viel stimulierender als etwa ein verspäteter impressionistischer Sonnenaufgang an der Seine (was auch billiger war als nach Tahiti zu reisen um, wie Gauguin einige Jahre zuvor, dort den bürgerlichen Konventionen zu entfliehen). Auf Flohmärkten fand Picasso viele seiner afrikanischen Vorbilder. Heute können wir sehen, wie seine genialen Hände zum Beispiel eine westafrikanische Grebomaske in seine „Gitarre“ (Ende 1912) verwandelten: eine kubistische Assemblage aus Metallblech und Drähten…
Solche direkten Einflüsse sind natürlich recht selten, und die Beziehungen basieren viel öfter auf stilistischer Affinität und Mutmaßungen.“ Aber die radikale Verzerrung der menschlichen Gestalt seit Beginn des letzten Jahrhunderts erhält tatsächlich viele Impulse aus der afrikanischen oder ozeanischen Stammeskunst und -Kultur. „Afrikanische Schnitzer betonten das, was für sie wichtig war: ein fruchtbarer Leib zum Beispiel, oder ein ungeheures Auge, in dem ein Gott wohnen könnte. Es waren diese Schnitzereien ohne jede Nähe zu westlichen Traditionen, die Künstler ermutigten, sich in zunehmend abstrakte Bereiche zu wagen.“ Aber dabei sollte nie vergessen werden, dass die primitive Kunst als Wahrzeichen der Welt des Geistes und der Geister, entstand. Primitivismus in der Kunst ist mehr als analytische Übung im Abstrahieren.
Quelle: „Der Herkunft des goldenen Phallus“, in DIE ZEIT , Jahrgang 1984, Ausgabe: 44, digital unter: Die Zeit Archiv Online, aufgerufen am 02.11.2018