‚Systems‘-Ausstellung

Die Ausstellung „Systems“, die 1972 in der Londoner Whitechapel Gallery stattfindet, markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der britischen Nachkriegskunst. Diese von den Künstlern Malcolm Hughes und Jeffrey Steele kuratierte Schau versammelt die wichtigsten Vertreter der sogenannten Systems Group und präsentiert einer breiteren Öffentlichkeit erstmals systematisch deren revolutionären Ansatz zur Kunstproduktion. Die Ausstellung wird zum Manifest einer Bewegung, die Kunst nicht mehr als Ausdruck subjektiver Empfindungen, sondern als Ergebnis präziser, regelbasierter Prozesse versteht.

Die Whitechapel Gallery, seit jeher ein Ort für avantgardistische Kunstpräsentationen, bietet den idealen Rahmen für diese radikale Neuorientierung. Die ausgestellten Werke – überwiegend Gemälde und Reliefs – unterscheiden sich fundamental von der damals vorherrschenden Abstraktion oder der aufkommenden Pop Art. Statt expressiver Pinselführung zeigen sie streng durchkomponierte, geometrische Strukturen, die nach mathematischen Prinzipien wie Permutationen, Progressionen oder Symmetrieregeln entwickelt sind. Jedes Werk dokumentiert quasi den Prozess seiner eigenen Entstehung und fordert den Betrachtenden auf, diesen gedanklichen Weg nachzuvollziehen.

Unter den teilnehmenden Künstlern ragen insbesondere die kuratierenden Künstler Malcolm Hughes mit seinen präzisen Rasterkompositionen und Jeffrey Steele mit seinen „Systematic Paintings“ hervor. Malcolm Hughes‘ Arbeiten demonstrieren, wie aus einfachen Grundelementen durch systematische Variation komplexe Bildordnungen entstehen können. Jeffrey Steeles algorithmische Kompositionen wiederum zeigen die Anwendung mathematischer Regeln auf die künstlerische Formfindung. Peter Lowe präsentiert rotierende und gespiegelte Formen, die an musikalische Variationstechniken erinnern, während Jean Spencer mit ihren subtilen Farbprogressionen eine poetischere Variante des Systemgedankens vorführt.

Die Ausstellung löst in der Kunstwelt kontroverse Diskussionen aus. Einige Kritikerinnen und Kritiker feiern sie als Befreiung der Kunst von subjektiver Willkür, andere bemängeln die vermeintliche Kälte und Sterilität der gezeigten Arbeiten. Unbestritten ist jedoch der intellektuelle Anspruch, mit dem die Systems Group ihre Position vertritt. Der begleitende Katalog entwickelte sich schnell zu einem wichtigen theoretischen Dokument der Bewegung.

Katalog der Ausstellung Systems 1972-1973 -Systems touring exhibition, Whitechapel Gallery in 1972

Aus heutiger Perspektive erscheint „Systems“ als visionäre Vorwegnahme späterer Entwicklungen. Viele der damals vorgestellten Prinzipien – serielle Generierung, algorithmische Komposition, regelbasierte Formfindung – finden sich heute wie selbstverständlich in der Konkreten Kunst, aber auch in der digitalen Kunst, im parametrischen Design oder in KI-gestützten Kreationsprozessen wieder. Die Ausstellung markiert damit nicht nur einen Höhepunkt der britischen Konkreten Kunst, sondern auch einen frühen Meilenstein auf dem Weg zu einer Kunst, die bewusst Systeme und Prozesse in den Mittelpunkt stellt.

Ich werde in den kommenden Tagen einige der Künstlerinnen und Künstler der Systems Group – und speziell diejenigen, die an der Ausstellung teilnehmen – hier vorstellen.

Hinterlasse einen Kommentar