Die Systems Group: britische Kunst zwischen Mathematik und Abstraktion

In den sechziger und siebziger Jahren entwickelt sich in Großbritannien mit der Systems Group eine Kunstbewegung, die sich durch ihre systematische und mathematisch geprägte Herangehensweise an die Kunst auszeichnet. Diese Gruppe von Künstlern, die auch als Systems Artists bekannt werden, schafft Werke, die sich bewusst von emotionaler Subjektivität abwenden und stattdessen auf klaren Regeln, seriellen Anordnungen und logischen Strukturen basieren. Ihre Arbeiten stehen an der Schnittstelle zwischen Konkreter Kunst, Konstruktivismus und Minimalismus und bilden damit eine faszinierende, wenn auch oft unterschätzte Strömung der britischen Moderne.

Der Kern der Systems Group besteht in der Überzeugung, dass Kunst durch rationale Systeme und berechenbare Methoden gestaltet werden kann. Die Künstlerinnen und Künstler verzichten bewusst auf spontane Gestaltung und setzen stattdessen auf mathematische Progressionen wie Fibonacci-Folgen, geometrische Raster, serielle Wiederholungen und Farbmodulationen nach festen Schemata. Dieser Ansatz unterscheidet sie deutlich von anderen zeitgenössischen Bewegungen wie dem abstrakten Expressionismus oder der informellen Malerei, die stärker auf Intuition und subjektiven Ausdruck setzen.

Ein Schlüsselereignis für die Bewegung ist die Ausstellung „Systems“, die 1972 in der Londoner Whitechapel Gallery stattfand. Diese Schau zu einer Art Manifest der Systems Group. Sie zeigt, wie Kunst durch systematische und regelbasierte Prozesse entstehen kann, und markiert gleichzeitig den Höhepunkt der Bewegung.

Vorstellung der Ausstellung „Systems“ in der Whitechapel Art Gallery, London 1972

Zu den wichtigsten Vertretern der Systems Group gehört Malcolm Hughes, der als zentraler Theoretiker der Gruppe galt. Seine präzisen Liniennetze und Raster wirken fast wissenschaftlich und demonstrierten seine tiefe Auseinandersetzung mit strukturellen Prinzipien. Jeffrey Steele, ein weiterer Schlüsselkünstler, entwickelt komplexe Kompositionen, die auf mathematischen Algorithmen basieren und Kunst als eine Form visueller Forschung begriffen. Peter Lowe experimentiert mit sich wiederholenden Formen und rhythmischen Sequenzen, die oft von musikalischen Kompositionstechniken inspiriert sind. Schließlich Gillian Wise wiederum verbindet konstruktivistische Ansätze mit kinetischen Elementen und untersucht, wie Bewegung und optische Effekte durch systematische Anordnungen erzeugt werden können. 

Obgleich die Systems Group nie denselben Bekanntheitsgrad wie die Pop Art oder der Minimalismus erreicht, hat sie dennoch wesentliche Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen. Ihre regelbasierten Methoden können als Vorläufer der heutigen digitalen und algorithmischen Kunst angesehen werden. Zudem schlagen die System Artists eine Brücke zwischen künstlerischer Gestaltung und wissenschaftlicher Systematik, indem sie mit Mathematikern und Architekten kooperieren. Auch spätere Strömungen wie der Minimalismus oder die Konzeptkunst greifen ähnliche Prinzipien auf, was sich beispielsweise in den seriellen Arbeiten von Sol LeWitt zeigt.

Die Systems Group zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Kunst nicht zwangsläufig aus spontaner Inspiration entstehen muss, sondern ebenso durch Ordnung, Logik und systematische Prozesse faszinierende Ergebnisse hervorbringen kann. Ihre Arbeiten wirken heute wie frühe Versuche, Kunst als eine Art Programmcode zu denken – eine Perspektive, die in Zeiten der Digitalisierung und algorithmischen Gestaltung aktueller denn je erscheint. Die Systems Group stellt letztlich eine grundlegende Frage: Begrenzt die Beschäftigung mit Regeln und Systemen die künstlerische Freiheit – oder schafft sie im Gegenteil neue Möglichkeiten der Gestaltung? Die Antwort mag individuell ausfallen, doch die Werke der Bewegung zeigen auf jeden Fall, dass Systematik und Ästhetik kein Widerspruch sein müssen.

In den kommenden Tagen mehr zu diesen Werken und den Künstlern der Systems Group.

Mehr Informationen und Werkbeispiele: Moves into abstraction: The Systems Group | Art UK

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