Konkrete Skulpturen – von der Masse zur Transparenz

Bevor ich in den kommenden Tagen den einen oder anderen konkreten Bildhauer an dieser Stelle vorstellen will, hier noch ein Artikel zum Verständnis modernen und konkreter Skulpturen:

„Die traditionelle Betrachtungsweise von Skulptur kennt zwei prinzipielle Methoden ihrer Herstellung: Aus dem Block oder Stamm geschlagen oder vom Skelett (sprich Drahtgerüst) heraus entwickelt. Also einmal von außen nach innen – die Erweckung des ungeformten Blocks; zum anderen die Beseelung des Skeletts – von innen nach außen.

Die meisten Bildhauer haben beide Methoden beherrscht, aber es gibt signifikante Künstler für je eine dieser Methoden. Beispielsweise Michelangelo, der Steinbildhauer, der wahre Wunderwerke, vom Odem des Lebens angehaucht, dem starren Block entlockte. Oder Alberto Giacometti, der Skulptur zur Apotheose des Skeletts stilisierte, als Sinnbild der Schutzlosigkeit und Gefährdung irdischen Daseins, aber auch Schutzlosigkeit gegenüber dem Raum, der Unendlichkeit, der Unmessbarkeit, der Unvorstellbarkeit.

Max Bill, Rhythmus im Raum, 1968
(c) hh oldman, Rhythmus im Raum (Max Bill 1908-1994) – panoramioCC BY 3.0

Die Entdeckung des Raumes als skulpturales Problem (analog der Entdeckung der Fläche als malerisches Problem) ist eine Leistung unserer Zeit. … Die traditionelle Betrachtungsweise von Skulptur ist gebunden an figürliche Darstellung im weitesten Sinne und an die jeweilige architektonische Situation, die den Sinn von Skulptur zwar nicht begründet, aber ihren Standort und ihre Dimension bedingt.

Frei und selbständig ist Skulptur erst in unserem Jahrhundert geworden, weil sie zu ihrem ursächlichen Thema gefunden hat: Raum und Nichtraum, Masse und Nichtmasse. Und um nichts mehr und nichts weniger geht es. Dies, und nur dies, ist der Sinn von Skulptur. Und dadurch eröffnen sich neue Betrachtungsweisen. Nicht, dass die Traditionellen ihre Gültigkeit verloren hätten, aber die gewonnene Freiheit, der verborgen gewesene Geist der skulpturalen Freiheit bedingt eine neue Sicht und ihr gehört unsere künstlerische Phantasie.Wir sind gefordert, für neue Einsichten die adäquate formale Sprache zu finden und die adäquaten Materialien …

Eine dieser neuen, für die Skulptur gewonnenen Einsichten ist die Linie, verstanden als Raumkoordinate, als optisches Hilfsmittel für die Unmessbarkeit des Raumes … Künstler wie die russischen Brüder Gabo und Pevsner, Norbert Kricke oder Günther Uecker haben ihr Lebenswerk auf dieser neuen Sicht des Raumgrafischen aufgebaut. Was an Masse scheinbar verloren ging, wurde an Transparenz des Geflechts hinzugewonnen. Masse als durchsichtiges, rhythmisiertes Volumen; dem schwingenden Ährenfeld näher als dem starren Block. Die gesprengten Blöcke Ulrich Rückriems beispielsweise bezeugen die Bedeutung der Linie, nicht durch die Masse. Der Schnitt ins Fleisch ist wichtiger als das Fleisch….“.

Quelle: Thomas Lenk: Edgar Gutbub – Arbeiten 1965-1991, Hällisch-Fränkisches Museum Schwäbisch Hall, 1992, online unter: https://galerie-gs.de/html/text-gutbub-lenk.html, aufgerufen am 18.05.2019

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